Von Hohentengen nach Zürich eine heiße Etappe voller Geschichte

Der gestrige Abend war von einer angenehmen Ruhe geprägt. Schon früh hatten wir beschlossen, den gemütlichen Campingplatz in Hohentengen nicht mehr zu verlassen. Immerhin war Samstag wir rechneten mit einer prall gefüllten Zeltwiese, spielenden Kindern, Stimmengewirr. Doch: Denkste. Zusammen mit einer entspannten Familie und zwei weiteren Pärchen gehörte uns diese tadellos gepflegte, große Zeltfläche fast allein. So viel Platz, dass die Kinder zwischen unseren Zelten Fußball spielten und trotzdem niemanden störten.

Weitsichtig wie wir sind, hatten wir unser heutiges Abendessen schon am Nachmittag in den Gemeinschaftskühlschrank verfrachtet. Kalte Küche bei über 30 Grad eine kluge Wahl. An einer rustikalen Holzsitzgruppe saßen wir später gemütlich, mit direktem Blick auf den Rhein. Der Fluss wirkte träge, fast wie in Zeitlupe zog er an uns vorbei, silbrig schimmernd im Licht der untergehenden Sonne. Wir sprachen über unsere gemeinsame erste Rhein-Etappe im Jahr 2012, eine Fortsetzung meiner großen Reise vom Atlantik bis nach Istanbul. Damals starteten wir in Bad Säckingen ich fuhr bis Ingolstadt, Martina stieg in Ulm aus.

Wenn du mehr über diese große Reise erfahren willst – mein Buch „Freidurchatmen – Eine Reise mit dem Rad vom Atlantik bis nach Istanbul“ wartet auf dich. Begegnungen mit Menschen, Natur und mir selbst. Eine Einladung, aufzubrechen. Vielleicht auch für dich.

Gegen 22 Uhr wurde es langsam ruhiger. Die Flugzeuge, die hier im Landeanflug auf Zürich ihre Schleifen ziehen, ließen nach. Nur wenige Meter entfernt bereitete eine osteuropäische Familie ihr Abendessen zu. In einem schweren, eisernen Topf brodelte Borschtsch über dem Feuer, später kamen Fleischstücke und Toast aufs Rost. Sie lachten, redeten in ihrer Sprache. Ich stellte mir vor, wie es sein muss, in einem fremden Land, fernab von den vertrauten Düften der Heimat, mit Freunden diese wenigen Momente kultureller Heimat zu teilen. Ein kleiner Geschmack von Zuhause. Kostbar.

Währenddessen sprangen die Kinder noch immer quietschend in den Fluss. Rauch vom Lagerfeuer legte sich wie ein bläulicher Schleier über das Wasser. Und dann brummend und tapsig kamen sie: Junikäfer. Dutzende. Ich habe seit meiner Kindheit keine mehr gesehen. Ihre tollpatschigen Flüge, das leise „Pffft“, wenn sie gegen Zeltwände prallen oder auf dem Boden landen und mit ihren Beinchen hilflos rudern. Für Kinder: Die Maikäfer kommen im Frühling, die Junikäfer etwas später im Sommer. Beide sind harmlos, brummige Freunde aus der Natur. Schön, ihnen hier wieder zu begegnen.

Es wurde kühl. Feuchtigkeit zog vom Rhein herüber. Unser warmes Zelt wartete.

„Was für ein Tag“, sagte Martina, als wir uns in die Schlafsäcke kuschelten.

„Der dicke Mann auf dem Campingplatz gestern … hast du gesehen, wie er sich direkt gegenüber den Sanitäreinrichtungen platziert hat?“

Ich musste lachen.

„Die Passage an der Wutach die war schon schön“, sagte sie weiter. „Aber ehrlich: Die Diskussion über die Route hätte ich mir sparen können. Die letzten zehn Kilometer mit den Anstiegen … das war hart.“

„Aber die leeren Straßen, oder? Wenig Verkehr, kaum Autos.“

„Ja“, nickte sie. „Das war wieder versöhnlich.“

Ein neuer Morgen und die Schweiz begrüßt uns

Schon nach einem Kilometer: Grenzübergang Kaiserstuhl. Willkommen, Schweiz. Irgendwie fühlt sich alles sofort aufgeräumter an. Gepflegter. Einladender. Kurz darauf tauchten die ersten Radschilder auf. Unser heutiges Ziel: Zürich. Und die Route führte uns direkt am Fluss Glatt entlang.

Die Glatt, dieser eher unbekannte Fluss, entspringt aus dem Greifensee und fließt nach Norden in den Rhein. Für uns heute: Ein Segen. Der Weg war wunderbar flach, schattige Abschnitte wechselten sich mit sonnigen Passagen ab. Am Ufer blühten gelbe Iris, Wasserlinsen trieben wie kleine Teppiche auf der glitzernden Oberfläche. Immer wieder sahen wir Libellen schwirren diese filigranen Flieger mit ihren metallisch schimmernden Körpern.

Und dann die Hitze. 34 Grad. Kein Lüftchen. Der Asphalt flimmerte vor uns, die Luft stand. Trotzdem war es eine Wohltat, an diesem ruhigen Fluss entlangzuradeln. Alles hier wirkte gepflegt selbst die Rastbänke waren frisch gestrichen, der Mülleimer leer, der Fahrradweg wie mit dem Lineal gezogen.

Zürich rückte näher. Die Einfahrt in die Stadt war erstaunlich angenehm heute war Sonntag. Kaum Verkehr, gut ausgeschilderte Radwege. Dann dieses Schild: Veloprüfung. In der Schweiz machen Schülerinnen und Schüler ab etwa 10 Jahren eine Art Fahrrad-Führerschein mit Theorie und praktischer Prüfung. Vorbildlich.

Doch in Zürich selbst kaum Schatten. Auf dem letzten Kilometer schoben wir die Räder durch die berühmte Bahnhofstraße. Rechts und links: Schaufenster voller Designermode und Juwelierschätze, viele davon ohne Preisangabe. Vielleicht aus Prinzip wer hier einkaufen kann, fragt vermutlich ohnehin nicht nach dem Preis.

Ankommen am Zürrichsee

Endlich, nach den heißen Kilometern und den letzten zähen Metern durch die stickige Innenstadt, standen wir am Ufer des Zürichsees. Was für ein Kontrast: Von der Hitze der Stadt hinein in diese frische, lebendige Szenerie aus Wasser, Himmel, Bergen und Licht.

Der Zürichsee oder „Züri-See“, wie ihn die Einheimischen liebevoll nennen – liegt wie ein weit geöffnetes blaugrünes Auge mitten in der Landschaft. Er zieht sich in sanftem Schwung Richtung Südosten, bis in die Alpen hinein. Und genau dort, in der Ferne, erhoben sich vor uns die ersten Spitzen der Glarner Alpen, mit weißen Schneefeldern, die wie gezuckert wirkten.

Das Wasser selbst war von einer unglaublichen Klarheit. Nah am Ufer schimmerte es in sanften Türkistönen, weiter draußen wechselte es ins tiefe Blau, je nachdem, wie die Sonnenstrahlen auftrafen. Mit jedem leichten Windhauch kräuselten sich die Wellen, als hätte jemand von oben silbernen Staub darübergestreut. In diesem Licht tanzten die Reflexionen, es war, als ob tausend kleine Spiegelblitze über das Wasser huschten.

Kinder planschten quietschend an den flachen Stellen des Ufers, tauchten unter, spritzten sich gegenseitig nass, während die Eltern entspannt auf den umliegenden Bänken oder auf Picknickdecken saßen.

Überall bewegte sich das Wasser: Stand-up-Paddler glitten fast lautlos an uns vorbei, einige mit leicht gebeugten Knien, andere mit Hund auf dem Brett. Kleine Motorboote zogen gemächlich ihre Spur, ihre Wellen kräuselten ans Ufer. Weiter draußen zogen weiße Segelboote ihre Bahnen, schräg gegen den Wind, mal elegant kippend, mal aufgerichtet von einer unsichtbaren Hand. Und immer wieder kamen Ausflugsschiffe vorbei, elegante, weiße Dampfer, die ihre Passagiere von Zürich aus über den See führten.

Am gegenüberliegenden Ufer zogen sich Villen, moderne Wohnhäuser und herrschaftliche alte Gebäude den Hang hinauf. Große Fensterfronten spiegelten das Sonnenlicht, teils waren es stilvolle alte Gebäude mit verwitterten Balkonen, teils klare moderne Architektur mit Dachterrassen und Infinity-Pools. Man konnte erahnen, dass dort oben Zürichs Wohlhabende residieren doch von hier unten wirkte alles friedlich, fast mediterran.

Die Luft war erfüllt von einer Mischung aus Sonnencreme, Grillwürstchen, warmem Asphalt und frischem Wasser. Vogelstimmen mischten sich mit dem dumpfen Brummen der Schiffe. Ein leichter Wind wehte uns den Duft von Sommer zu.

Und da saßen wir nun ausgepowert, dehydriert, aber glücklich. Die Bank an der Promenade war in diesem Moment unser Thron. Die neun Franken für die Bratwurst? Ein kleines Opfer für diesen Blick, diese Atmosphäre, diesen Moment.

Wir wussten: Das war einer dieser Tage, der sich ins Herz brennt. Nicht perfekt, aber echt. Warm, voller Leben, voller Geschichten.

Und hier schreibe ich jetzt  das ist kein Witz, bei Cappuccino und Trüffelpommes in der Beiz „Fischers Fritz“. Unser Zelt unter schattigen Nadelbäumen, in erster Reihe am Wasser.

Kein mobiles Internet, keine Mails, keine Nachrichten. Entschleunigung pur. Diese Momente lehren uns, was wirklich zählt: Nicht das Tempo, nicht die Kilometer, sondern das bewusste Erleben. Den Blick heben. Das Jetzt spüren. Innehalten. Lauschen. Riechen. Fühlen.

Reisen lehrt uns Demut, weil wir merken, wie klein wir eigentlich sind im Vergleich zu all dem, was uns umgibt. Und gleichzeitig gibt es uns Größe, weil wir spüren, dass wir ein Teil davon sind.

Und vielleicht, ganz vielleicht, erkennst auch du beim nächsten Ausflug, wie wertvoll diese kleinen Pausen sein können. Sie sind es, die aus Wegen Geschichten machen.

Bleibt neugierig. Bleibt offen. Und: Fahrt los.

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