27.09.2025 Hameln – eine Stadt aus Stein und Sage

Es ist ein kühler Vormittag, als ich die ersten Schritte durch die Gassen von Hameln setze. Kopfsteinpflaster unter meinen Füßen, Häuserfronten mit verzierten Giebeln links und rechts. Der Stadtführer erwartet mich schon, eigentümlich gekleidet, wie ein Rattenfänger der leisen Töne, doch nicht mit Flöte, sondern mit einer Klarinette, die er fast zärtlich in den Händen hält.

„Willkommen in Hameln“, sagt er und verneigt sich leicht. „Wenn Sie bereit sind, nehme ich Sie mit auf eine Reise durch Steine, Sagen und Schicksale.“

Ich nicke, noch etwas schlaftrunken, aber neugierig.

Der Stein, der die Stadt formte

Wir beginnen beim Obernkirchener Sandstein. Der Stadtführer deutet auf die Fassaden: „Dieser feine Stein, hier im Weserbergland gebrochen, war schon im Mittelalter heiß begehrt. Wissen Sie, er trägt den Sockel der Freiheitsstatue in New York, er steckt im Brandenburger Tor in Berlin, er ruht im Weißen Haus in Washington. Doch auch in Hameln wurde er reichlich verbaut.

Ich streiche mit der Hand über das kühle Gestein. Jeder Stein wirkt wie ein Stück Ewigkeit, und doch haben Menschen ihn geformt, bearbeitet, aufgetürmt.

Weserrenaissance – Häuser wie gemalte Geschichten

Wir schlendern weiter. Der Stadtführer zeigt auf zwei der prächtigsten Gebäude: das Leisthaus und das Dempterhaus. „Beide stammen aus der Blüte der Weserrenaissance“, erklärt er. „Muschelmuster, Voluten, aufwändig verzierte Giebel – typisch für die Region. Das Leisthaus hieß so, weil sein Bauherr sich leisten konnte, was andere nicht konnten. Und die Giebel, sehen Sie, sind nicht nur Zierde. Manche Eingangstüren waren so groß, dass Wagen direkt hineinfahren konnten. Auch Vorbauten waren beliebt – dort standen die Damen, um dem Treiben zuzusehen. Wer nicht mehr hinaussehen durfte, war im wahrsten Sinne des Wortes weg vom Fenster.“

Wir lachen beide über die Wendung, und plötzlich wird aus einem Sprichwort eine Szene vergangener Jahrhunderte.

Pest, Feuer und das alte Rathaus

„Die Geschichte Hamelns“, fährt der Führer fort, „war nie nur Glanz. Zweimal wütete die Pest hier. Brände legten Häuserreihen nieder. Kupferschmiede und andere gefährliche Handwerke hielt man lieber außerhalb der Stadtmauern. Das alte Rathaus brannte nieder, und als man später die Nikolaikirche mit ihrem markanten Turm neu plante, entschied man, das Rathaus ganz abzubrechen. So musste sich die Stadt ständig neu erfinden.“

Wir stehen vor der Kirche. Der Stadtführer zeigt nach oben: „Sehen Sie die Turmspitze? Sie ist wie ein Schiff gestaltet. Ein Signal für die Weserschiffer, die hier ihre Kirche fanden.“

Ein melancholischer Zug liegt in seiner Stimme, als er von diesen Katastrophen erzählt. Man spürt, wie eng Wohlstand und Verderben beieinanderlagen.

Hochzeitshaus und Spiel der Bürger

Vor uns erhebt sich das Hochzeitshaus. „Einst in den „Hoch Zeiten“ ein Haus der Feste und Hochzeiten“, sagt der Führer, „heute Bühne für die Stadt. Hier nebenan finden die Laienfreilichtspiele statt, sogar Dreijährige stehen schon auf der Bühne. Vor der Fassade hören Sie das Glockenspiel, das Rattenfängerfigurenspiel, und sehen, wie die Sage lebendig bleibt.“

Ich stelle mir vor, wie im Sommer hunderte Menschen hier sitzen und stehen, das Spiel verfolgen, Kinder lachen und Eltern nostalgisch werden.

Der Rattenfänger – die Sage und ihre Deutungen

Wir bleiben vor dem Rattenfängerhaus stehen. Der Stadtführer wischt mit dem Finger über die Inschrift: „1602 für Hermann Arendes erbaut. Die Fassade ein Musterstück der Weserrenaissance. Später nannte man es Rattenfängerhaus wegen dieser Inschrift, die vom Auszug der Kinder spricht.“

Ich frage ihn: „Und warum gingen die Kinder wirklich fort?“

Er schaut mich an, lächelt wissend und antwortet:

„Es gibt viele Gründe, mehr als wir je zählen könnten. Manche sagen, es war die Pest, die Kinderleben forderte. Andere sehen darin eine Massenwanderung nach Osten, die Kolonisation neuer Ländereien. Es gibt Erklärungen von Seuchen, Zwangsrekrutierungen, von Sekten, von kriegerischen Ereignissen. Manche behaupten, die Kinder seien als Arbeitskräfte in fremde Regionen geführt worden. Andere sehen ein symbolisches Ritual oder die Erinnerung an ein Massaker. Manche sagen, es war einfach ein Chronistenfehler. Ganze siebenundzwanzig Gründe haben die Gelehrten gesammelt – jeder klingt plausibel, und doch bleibt alles ein Rätsel.“

„Und hatte der Rattenfänger selbst einen Namen?“ frage ich.

„Nein“, sagt er leise, „die Chroniken nennen ihn nie. Er bleibt eine Gestalt ohne Eigennamen, ein Symbol, ein Schatten. Vielleicht macht gerade das die Geschichte so mächtig.“

Ein Schauer läuft mir über den Rücken.

Straßen, Brunnen und Symbole

Wir gehen in die Bungelosenstraße. „Straße ohne Musik“, sagt der Führer. „Hier war Musizieren verboten, zur Erinnerung an das Schweigen nach dem Kinderzug.“

Dann zeigt er mir den Rattenfängerbrunnen. „Zwei Versionen gibt es hier, die Figurengruppe ist modern, doch sie zieht Besucher magisch an.“

Er weist auf kleine Details an den Häusern: „Sehen Sie die aufgemalten Backsteine? Manchmal war es günstiger, eine Illusion zu schaffen. Und dort oben, ein Neidkopf – ein Fratzengesicht, das böse Blicke abwehren sollte. Und dort die Bissenquader, kunstvoll gearbeitete Steine in der Fassade.“

Ich merke, wie die Stadt voller Codes und Symbole ist, kleine Botschaften in Stein gemeißelt, die Geschichten von Stolz, Angst und Witz erzählen.

Leben im Mittelalter

Wir setzen uns auf eine Bank. Ich frage: „Wie lebten die Menschen hier eigentlich?“

Der Führer antwortet: „Das Mittelalter in Hameln war hart. Enge Gassen, Rauch und Feuergefahr, primitive Hygiene. Pest und Hunger waren ständige Begleiter. Kinderarbeit war normal. Aber auch das Lachen der Kinder, das Treiben auf den Märkten, die Gerüche von Brot, Fisch und Kupfer, das Rufen der Händler – all das gehörte dazu. Es war eine Zeit, in der man sich mit wenig zufriedengab, aber immer den Blick auf die Gemeinschaft hatte. Das machte die Menschen stark.“

Hameln zwischen Geschichte und Legende

Wir gehen zum Ende der Führung. Die Sonne sinkt langsam, taucht die Fassaden in goldenes Licht. Der Stadtführer hebt seine Klarinette und spielt ein paar leise, wehmütige Töne.

„Hameln“, sagt er, „ist eine Stadt, die von Steinen und Geschichten lebt. Die Kinder verschwanden, aber ihre Legende ist geblieben. Und die Menschen haben daraus mehr gemacht als nur eine Tragödie – sie haben ein Stück Identität geschaffen.“

Ich nicke. Und während die Melodie leiser wird, denke ich, dass Hameln eine Stadt ist, in der Geschichte nicht nur erzählt wird, sondern im Pflaster, in den Mauern, in jedem Brunnen und in jeder Straße weiterlebt.

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