Die Nacht ist erfüllt vom Konzert der Natur. Frösche quaken mit hartnäckiger Inbrunst, während auf der anderen Seite des Ufers die Störche mit ihrem rhythmischen Klappern ein letztes Kapitel in den Tag schreiben. Alles scheint zu schlafen und doch lebt es dicht unter der Oberfläche. Heute Nacht sollen Mitarbeiter des Veterinäramts kommen, um die Afrikanischen Nilgänse einzufangen. Als invasive Art verunreinigen sie das Schwimmbad und das nahegelegene Wasserbecken, in dem Kinder spielten, als wir gestern dort vorbeiradelten. Es ist ein leiser, trauriger Eingriff in ein fragiles Gleichgewicht.
Vier Uhr morgens. Ich muss aus dem Zelt. Der Himmel beginnt zu dämmern. Ein sanftes Blau löscht die letzten Spuren der Nacht aus dem Horizont. Die Silhouette des gegenüberliegenden Ufers zeichnet sich zart im glatten Spiegel des Rheins ab. Stille. Fast unheimlich ruhig ist es ein Moment, der schwer auf den Schultern liegt und zugleich in seiner Schönheit erdrückend wirkt. Tau sammelt sich auf meinen bloßen Armen. Ich fröstle nicht aus Kälte sondern weil ich von einer tiefen, fast lähmenden Melancholie ergriffen werde. Es sind bereits achtzehn Grad doch in mir ist es kühler.
Ein einzelner Storch klappert erneut fast fragend. Die Frösche setzen ihr Konzert fort. Wie lange noch. Eine Entenfamilie zieht elegant ihre Bahnen. Die Sterne lösen sich langsam aus dem Firmament verschwinden wie Gedanken die man nicht festhalten kann. Plötzlich ein Blatt langsam und schwerelos fällt es von der Trauerweide auf meinen Oberschenkel. Es ist ein kleines Symbol der Vergänglichkeit beinahe zu poetisch um wahr zu sein. Ich betrachte es. Was bleibt. Was darf ich loslassen. Was sollte ich festhalten. Was muss ich ob ich will oder nicht. Und vor allem wie geht es weiter. Ich weiß es nicht. Und ich will es gerade auch nicht wissen. Die Fragen kommen in Schüben die ich kaum fassen kann. Ich habe Angst vor den Antworten. Ich habe Angst vor der Zukunft. Wann beginnt sie. Wann endet sie. Ist sie überhaupt etwas das man erreichen kann oder immer nur ein Schatten ein Versprechen das sich windet wie der Nebel über dem Wasser.
Dann ein Knall. Laut. Plötzlich. Unvermittelt.
Ich zucke zusammen. Für einen Moment denke ich an Granaten an Flugzeuge an Sirenen. Instinktiv zieht sich mein Magen zusammen. Es sind nicht die Erlebnisse meines eigenen Lebens sondern die Bilder die sich durch Medien Erzählungen und Zeitungsseiten in mein Inneres gebrannt haben. Kriege die wir kennen. Und die unzähligen von denen wir nichts erfahren. Weil Reporter nicht durchkommen. Weil Regime ihre Macht über Information erbittert verteidigen. Weil jede Seite sich selbst als Opfer stilisiert. Ich spüre Wut aber auch Hilflosigkeit. Diese Ohnmacht macht mich traurig. Ich denke an all die Menschen deren Morgen nicht leise beginnt sondern mit Explosionen Angst und der Gewissheit dass es kein sicheres Ufer mehr gibt.
Martina hat sich zu mir an den Fluss gesetzt, schaut mich an. Ihre Augen sind ebenso wach wie meine.
Was würde jetzt eigentlich Chuck Norris tun fragt sie mit einem schmalen Lächeln
Der hätte dem Knall die Angst aus dem Leib gekickt antworte ich und wir grinsen erschöpft aber aufrichtig
Und vielleicht ist genau das eine Antwort. Lächeln. Atmen. Freidurchatmen. Weitergehen.
Basel. Ein kurzer Stopp in der Altstadt. Neunzig Minuten lang versuchen wir unsere überhitzten Körper zu kühlen die staubigen Gedanken zu klären die Erschöpfung etwas abzuschütteln. Klimatisierte Läden laden zum Verweilen ein selbst das Summen der Kassenscanner wirkt wie Musik. Im Schatten am Ufer des Rheins setzen wir uns. Ein kleiner Snack ein kühler Schluck Wasser. Das Bircher Müsli fast heilig in seiner Einfachheit ist das kulinarische Highlight des Tages.
Doch das eigentliche Geschenk dieses Zwischenstopps liegt anderswo. Als wir uns schließlich ein ruhiges Plätzchen unterhalb einer steinernen Ufermauer suchen lassen wir uns in den Rhein gleiten. Das Wasser ist kühl und klar, es umschließt unsere Körper wie ein sanfter Mantel aus Frische. Ein Zittern läuft über meine Haut, gefolgt von einem befreienden Aufatmen. Der Kontrast zur flirrenden Hitze des Tages ist überwältigend. Die leisen Strömungen streichen an meinen Beinen vorbei, kleine Kiesel unter den Füßen massieren mich beinahe liebevoll. Der Duft von Flusswasser, gemischt mit Moos und warmem Stein, steigt in meine Nase. Martina lacht leise als ein Fisch ihre Wade berührt. Wir tauchen unter, öffnen die Augen im kühlen Nass, sehen das Licht gebrochen über uns tanzen. Für einen Moment verschmelzen alle Sinne in einem Zustand tiefer, reiner Erfrischung. Kein Gedanke mehr an Müdigkeit an Hitze an Sorgen. Nur Wasser Haut Atem.
Doch dann ruft die Straße. Dreißig weitere Kilometer liegen vor uns. Die Sonne steht hoch grell und gnadenlos. Sie sticht durch die Luft wie flüssiges Glas. Die Vegetation am Rheindamm bietet kaum Schatten. Wir kämpfen uns voran jeder Tritt ins Pedal ein kleiner Sieg gegen die Erschöpfung. Schweiß rinnt über meine Stirn in die Augen auf die Hände. Martina fährt schweigend neben mir. Auch sie ist längst jenseits der körperlichen Komfortzone. Unsere Bewegungen sind automatisiert fast apathisch. Das Denken tritt zurück. Nur noch Muskeln Wille Gleichgewicht.
Die Sonne beißt. Das Grün der Bäume hängt schlaff wie müde Schultern. Kein Windhauch. Kein Vogelgesang. Nichts. Nur das rhythmische Knarren der Pedale das leise Surren der Kette das sanfte Klacken der Gangschaltung. Noch sechs Kilometer. Die Zahlen zählen wir rückwärts. Die Vorstellung von Ankommen ist das Einzige das uns trägt.
Endlich der Campingplatz. Einhundertfünfzig Meter noch. Dann ist es geschafft. Die kleine Rezeption ist ein Segen klimatisiert kühl freundlich. Vor uns ein Gast der viele Fragen stellt. Verständigungsschwierigkeiten auf beiden Seiten. Kein Problem. Wir warten. Wir haben gelernt Geduld ist ein unsichtbarer Begleiter der das Reisen formt wie der Wind das Ufer.
Der Zeltplatz ist beschattet. Unsere Bewegungen sind langsam bedächtig fast würdevoll. Erst einmal ein kühles Getränk. Ein paar Bissen. Und dann Zelt aufbauen Schlafplatz richten durchatmen.
Martina schaut auf den Himmel
Heute war kein Tag für große Gedanken sagt sie
Ich nicke.
Aber ein Tag für große Ausdauer
Dann lachen wir erschöpft und zufrieden.
„Hetz mich nicht“ murmle ich während ich die Heringe in die trockene Wiese drücke
Morgen ist auch noch ein Tag. ….