Michael & Robert Spandau nach Goslar

Spandau nach Trebitz

Wir, Michael und Robert, trafen mit etwa zehn Minuten Unterschied in Berlin-Spandau ein. Nach einer langen Zugfahrt war der erste Moment der Reise ein stiller, gemeinsamer Kaffee, um den Übergang vom Alltag zur Etappe zu zelebrieren. Der Duft des Heißgetränks, das leise Rattern der einfahrenden Züge, und das Kribbeln der Vorfreude, all das mischte sich zu einem sanften Auftakt unserer Radreise.

Unsere Route begann entlang des Havelkanals, der uns mit offenen Armen empfing. Das Thermometer zeigte 16 Grad Celsius, es war frisch, aber nicht kalt eine Temperatur, bei der man sich wach und lebendig fühlt. Die Natur war bereits tief im Frühlingskleid, die Luft voller Duft nach feuchter Erde und jungem Grün. Doch noch während wir in Schwung kamen, zogen dunkle Wolken auf. Der Regen, zunächst zart wie ein Versprechen, wurde bald zum Begleiter unserer Tour, nicht nur in Form kurzer Schauer, sondern stellenweise als wuchtiger Starkregen.

Die Tropfen klatschten auf unsere Helme, sammelten sich in Rillen auf der Straße, und zwangen uns mehrfach zu Pausen. Doch inmitten der Nässe dachten wir an etwas, das leicht vergessen geht: Wie wichtig dieser Regen ist. Gerade im späten Frühling, wenn die Böden nach dem ersten Wachstumsschub austrocknen und die jungen Pflanzen hungrig nach Wasser sind, wird jeder Tropfen zu einem Lebenselixier. Für Felder, Wälder und Wiesen. Für Bienen, die aus den frisch geöffneten Blüten trinken. Für Landwirte, die um Ernte und Ertrag bangen. Der Regen, so lästig er uns Radfahrern erschien, war ein Geschenk für die Natur – und das versöhnte uns mit den nassen Schuhen und kalten Fingern.

Im Park Sanssouci fuhren wir mit dem Rad an Touristen und Spaziergängern vorbei, hinauf zu den barocken Terrassen, über sandige Wege und unter den weit ausladenden Baumkronen. Sonnenstrahlen blitzten zwischen den Blättern hindurch und warfen Muster auf den Weg. Für einen Moment schien die Welt perfekt im Gleichgewicht. Am Ende des Parks kamen wir an einem besonderen Ort an, der Grabplatte des „Alten Fritz“. Keine Statue, kein Denkmal sondern eine schlichte, ebenerdige Steinplatte. Was sie besonders macht: Auf ihr liegen Kartoffeln. Besucher bringen sie als stille Geste der Dankbarkeit. Denn Friedrich II., König von Preußen, war es, der die Kartoffel gegen große Widerstände in Europa durchsetzte.

Seine Methode war dabei ebenso genial wie eigensinnig: Er ließ Kartoffeläcker von Soldaten bewachen, damit das Volk glaubte, sie seien wertvoll, was sie letztlich auch waren. Ohne ihn gäbe es womöglich nicht diese große Vielfalt an Kartoffelgerichten, aus der wir heute wählen können: vom zarten Kartoffelgratin bis zu handgeschnittenen Pommes, vom Rösti bis zur Gnocchi. In den 1960er bis 80er Jahren war es für angehende Köchinnen und Köche eine besondere Herausforderung, all diese Zubereitungsarten nicht nur auf Französisch zu benennen etwa „Pommes Anna“, „Pommes Duchesse“ oder „Pommes Macaire“ sondern auch in perfekter Technik zuzubereiten. Die Kartoffel war Prüfstein und Pflichtstoff zugleich. Und all das verdanken wir, nicht ohne ein Augenzwinkern, dem Preußenkönig auf seinem stillen Grab.

Erst nach diesem eindrucksvollen Ort gönnten wir uns eine kulinarische Pause in Werder beim geprüften Brotsommelier Tobias Exner. Die Bedienung war herzlich, aufmerksam und verkaufsorientiert. Wir durften unsere Akkus nachladen und unsere Energiespeicher auffüllen: mit cremigem Cappuccino, duftendem Gebäck, das fast schon Kunstwerk war, und dem Gefühl, willkommen zu sein. Die großzügige Terrasse lag in einem Sonnenfenster, das sich für einen Moment geöffnet hatte als wolle das Wetter uns danken für unsere Geduld.

Doch Potsdam hielt nicht nur Genuss für uns bereit. Kurz darauf, mitten im städtischen Verkehr, kam es zu einem fast tragischen Moment. An einer unübersichtlichen Straßenbahnstrecke übersah Robert beinahe eine heranfahrende Tram. Nur Michaels schneller Blick auf einen seitlich montierten Spiegel verhinderte Schlimmeres. Sein Warnruf brachte uns rechtzeitig zum Halten. Ein Atemstillstand, der sich tief ins Gedächtnis einbrannte.

Die Fahrt führte weiter zur Glienicker Brücke, einem Ort, der deutsche Geschichte in Stein gemeißelt trägt. Während des Kalten Krieges war sie Grenze und Symbol zugleich. Hier wurden Agenten getauscht Unter größter Geheimhaltung. Am bekanntesten war der Austausch des amerikanischen U-2-Piloten Gary Powers im Jahr 1962. Als wir die Brücke überquerten, peitschten Windböen über die Havel. Sie waren so stark, dass wir Mühe hatten, unsere Spur zu halten. Der Wind drückte uns gefährlich in Richtung Fahrbahn, der Regen schlug ins Gesicht. Unter uns brodelte das Wasser, weiße Schaumkrönchen auf den Wellen, als ob die Havel selbst in Aufruhr wäre.

Kaum waren wir auf der anderen Seite, legten wir eine Rast ein mit Blick auf eine kleine, bunt gestrichene Kirche am gegenüberliegenden Ufer. Friedlich und farbenfroh wirkte sie wie ein Gemälde, das uns daran erinnerte: Nach Sturm kommt Stille.

Der weitere Weg war fordernd, aber auch erfüllend. Wir durchquerten stille Waldpassagen, überquerten laute Autobahnen, und unter einer Eisenbahnbrücke türmte sich Wasser auf der Straße. Unklar, wie tief, einer musste vorangehen. Mit klopfendem Herzen und einem entschlossenen Tritt ins Ungewisse wagten wir es und kamen trocken genug auf der anderen Seite an, um darüber zu lachen.

In Trebitz erreichten wir unsere Unterkunft im „Stützpunkt“. Die Zimmer unter dem Dach waren einfach, mit sichtbaren Balken, aber sauber und ruhig. Am Abend verzogen sich die Wolken, und ein blauer Himmel mit letzten Sonnenstrahlen schenkte uns einen Moment des Friedens.

Zum Abschluss besuchten wir das vegetarische Bistro „Kochtopf“, betrieben von Lea Tomppert, eine One-Woman-Show voller Herz. Das Konzept: Jeder zahlt, was er kann. Die Gerichte sind liebevoll gekocht, sättigend und solidarisch. Kein Schnickschnack, kein Kommerz nur ehrliches vegetarisches Essen, das verbindet.

Dieser Tag war weit mehr als eine Radstrecke auf der Landkarte. Er war eine Reise durch Zeiten, durch Wetter, durch menschliche Begegnungen. Ein Tag zwischen Poesie und Realität, zwischen Gefahr und Dankbarkeit, zwischen Kartoffeln auf einem Grabstein und einer bunten Kirche an der Havel.

Und morgen, da geht’s weiter. Bereit, wieder überrascht zu werden.

Trebitz nach Dessau

Michael und ich, Robert, starteten unsere Radreise mit einem Frühstück, das den Tag würdig einläutete regional, aus Bioanbau und mit selbstgemachten Marmeladen, die uns schon am frühen Morgen ein Lächeln ins Gesicht zauberten. Der Himmel war zwar stark bewölkt, aber es blieb trocken. Nur der Gegenwind blieb unser ständiger Begleiter, zäh und unermüdlich. Doch wir ließen uns davon nicht aufhalten. Die ersten Kilometer führten uns über sanft hügelige Wege, vorbei an Feldern, kleinen Wäldern und weiten Aussichten. Die Sonnenblumen standen noch klein und unscheinbar in der Erde, aber ihre Ausrichtung zur Sonne verriet bereits ihre Entschlossenheit. Besonders eindrücklich war der intensive Duft eines Knoblauchfeldes, das sich in der Wärme zu voller Aromakraft entfaltete, ein Moment, der uns innehalten ließ.

Ein besonderes Erlebnis war die Begegnung mit einem unscheinbaren, doch bedeutungsvollen Objekt am Wegesrand: ein Wildschutzzaun, der sich als Kunstwerk der documenta 14 entpuppte. Fichtenstangen aus dem Sauerland waren hier aufgestellt wie ein typischer Wildzaun, doch mit tieferer Bedeutung. Sie symbolisierten Grenzen, Schutzräume, aber auch die Trennung von Mensch und Tier, von Natur und Kultur. Inmitten der Landschaft wirkte das Werk beinahe still und gerade darin lag seine Kraft.

Zur Mittagszeit erreichten wir die restaurierte Altstadt von Wittenberg. Zwischen liebevoll sanierten Fachwerkhäusern fanden wir die Schlossmühle ein uriges Gasthaus mit viel Geschichte, das direkt am Wasser liegt. Der Männertag war deutlich spürbar: bereits am Vormittag wurde Bier ausgeschenkt, Bänke waren gut besetzt, die Stimmung ausgelassen, aber friedlich. Wir stärkten uns mit einem kräftigen Schaschlik – deftig, saftig, genau richtig nach der Etappe.

Frisch gestärkt setzten wir unsere Fahrt fort und entschieden uns für eine kleine Schleife südlich von Dessau: den Sieglitzer Berg ein geschichtsträchtiger Waldpark, der Teil des Gartenreichs Dessau-Wörlitz ist, aber zugleich etwas Wildes, Ursprüngliches hat. Der Park wurde Ende des 18. Jahrhunderts als „geordnete Wildnis“ angelegt mit natürlichen Waldbeständen, kunstvollen Sichtachsen, kleinen Überraschungen am Wegesrand und klassizistischen Toranlagen.

Im Zentrum des Parks steht die Solitude, ein eleganter Bau im Stil eines römischen Tempels. „Was für ein Ort“, meinte Michael beeindruckt, als wir davor standen. „Das sieht aus wie eine Mischung aus Heiligtum und Rückzugsort.“ Und genau das war sie auch. Fürst Leopold III. ließ sie um 1777 errichten als privaten Erholungs- und Badeort, um seine rheumatischen Beschwerden zu lindern. Warmes Wasser wurde aus einem benachbarten Küchengebäude, das wie ein antiker Grabturm gestaltet war, über ein unterirdisches System direkt in die geflieste Badestube geleitet.

„Da hat jemand verstanden, wie wichtig Ruhe und Natur sind“, sagte ich und ließ den Blick durch die Lichtung schweifen. Die Inschrift über dem Eingang „Der Besserung“  wirkte heute noch wie eine stille Mahnung an Selbstfürsorge und Achtsamkeit. Und doch war die Solitude nicht nur ein Ort der Genesung: In Zeiten politischer Spannungen diente sie auch als diplomatischer Treffpunkt während des Fürstenbundes.

Ringsum begegneten wir weiteren Zeichen durchdachter Gestaltung: Statuen, Denkmale, historische Tore und doch blieb alles in ein natürliches Waldstück eingebettet, das Raum zum Durchatmen ließ. Ein Ort, der uns tief beeindruckte ruhig, geschichtsträchtig und auf besondere Weise inspirierend.

Schließlich erreichten wir den Gremminer See. Wo einst der Braunkohletagebau Golpa-Nord das Land prägte, liegt heute ein stiller, künstlicher See. Am Eingang entdeckten wir eine futuristisch anmutende Unterkunft kantig, metallisch, fast außerirdisch wirkend. Sie wirkte wie das verlassene Hauptquartier eines anderen Planeten, ein Ort, der faszinierte und irritierte zugleich.

Nur wenige hundert Meter weiter lag Ferropolis, die „Stadt aus Eisen“. Riesige Tagebaumaschinen, Schaufelradbagger, Absetzer und Eimerkettenbagger standen dort wie Mahnmale des Industriezeitalters. Heute ist Ferropolis ein Denkmal, Museum und Veranstaltungsort zugleich, ein Ort, an dem Stahl und Geschichte auf Kunst und Gegenwart treffen.

Nachdem wir Ferropolis hinter uns gelassen hatten, führte uns der Weg in ein nahegelegenes Waldstück und direkt in eine Vadderdachsparty. Lautsprecher spielten Schlager, der Duft von Gegrilltem lag in der Luft, Bollerwagen rollten über Waldboden. Auch Security war vor Ort, doch es ging friedlich zu. Bemerkenswert: Nicht nur Männer feierten. Auch viele Frauen waren unterwegs, offensichtlich war der Muttertag schon gut verdaut. Es war ein lautes, fröhliches, sehr lebendiges Bild ein Kontrast zu den stillen Landschaften des Vormittags.

Irgendwo auf dem weiteren Weg machten wir noch einen kleinen, ungeplanten Abstecher ganz spontan. Ein Weg, der nicht auf unserer Route lag, wirkte zu einladend, um ihn zu ignorieren. Und wie so oft war es genau dieser Abstecher, der uns mit einem besonderen Moment belohnte ganz ohne Plan, aber mit großer Wirkung.

Morgen setzen wir unsere Reise fort. Das Ziel: Staßfurt, am Rand des Harzes. Neue Wege, neue Erlebnisse und mit Sicherheit wieder neue Geschichten.

Elberadweg (Dessau–Köthen–Hohenerxleben–Bernburg)
Ein neuer Tag begann und wie könnte er besser starten als mit einem ausgedehnten Frühstück in einer kleinen, charmanten Bäckerei in Dessau. Die Sonne stand schon früh am Himmel, der Himmel war strahlend dunkelblau ein Versprechen für einen prachtvollen Radtourtag.

Die Bäckerei war ein echter Glücksgriff. Zwei Verkäuferinnen begrüßten uns mit einer so herzlichen, natürlichen Art, dass uns sofort warm ums Herz wurde.

„Na, ihr seht so aus, als ob ihr ein ordentliches Frühstück brauchen könntet!“ lachte eine von ihnen und schob uns zwei heiße Kannen Kaffee über die Theke.

Es gab frische Brötchen, hausgemachte Marmelade, Rührei mit Schnittlauch und das Beste: ein lockerer Schnack, der uns ein Lächeln aufs Gesicht zauberte. Der Tag konnte kommen. 

Die erste Etappe von Dessau nach Köthen war heute kurz, doch sie hatte es in sich, nicht wegen der Strecke, sondern wegen der Eindrücke. Schon bald fuhren wir an weiten Auenlandschaften entlang, vorbei an Nebenarmen der Elbe, in denen sich Frösche und Libellen tummelten.

An einem kleinen Froschteich legten wir eine Pause ein. „Hör mal, das ist Hochzeitsmusik!“, grinste Michael. Und wirklich das laute Quaken der Frösche war ein akustisches Spektakel. Zwischen dem Schilf sangen unzählige Vögel. Viele von ihnen waren Teichrohrsänger und Bartmeisen Vögel, die sich perfekt an dieses feuchte Biotop angepasst haben. Ihre Rufe durchdrangen die Stille ein echtes Frühlingskonzert. Besonders der Bartmeise, mit ihrem auffälligen schwarzen Schnurrbart beim Männchen, begegnet man nicht überall. Diese Vögel gelten als typische Bewohner der Schilfzonen Indikatoren für ein gesundes Ökosystem. 

Ab 10:00 Uhr war’s vorbei mit der Gemütlichkeit. Der Gegenwind blies uns unaufhörlich ins Gesicht, die Oberschenkel brannten, meine Kopfschmerzen wurden mit jedem Kilometer stärker.

„Wenn das so weitergeht, biegen wir nach Hause ab und verkaufen die Räder!“ fluchte Michael.

Wir fuhren durch Sachsen-Anhalt das Herz der deutschen Rapsverarbeitung. Links und rechts der Strecke glänzten riesige gelbe Felder im Sonnenlicht. In Magdeburg steht das größte Bio-Ölwerk des Landes, mit einer Verarbeitungskapazität von 700.000 Tonnen Rapssaat pro Jahr. Hier entstehen nicht nur Rapsöl und Biodiesel, sondern auch Rapskuchen für Futtermittel und Pharmaglycerin. Auch Bitterfeld-Wolfen und Wittenberg sind bedeutende Verarbeitungszentren.
Raps ist hier mehr als nur eine Pflanze er steht für nachhaltige Landwirtschaft und eine enge Verzahnung von Landwirtschaft und Industrie. Trotz aller Herausforderungen bleibt Sachsen-Anhalt eine tragende Säule im deutschen Rapsanbau.

Bernburg empfing uns mit fröhlichem Trubel ein Stadtfest! Statt auf dem Sattel schoben wir unsere Räder durch die engen Gassen.
„Gar nicht so schlecht“, keuchte ich, „endlich mal windgeschützt!“

Wir nutzten die Gelegenheit für eine Pause, luden unsere Akkus auf und tankten Kraft nicht nur elektrisch, sondern auch seelisch. Die kleinen Altstadtgassen, der Duft von Gegrilltem, Kinderlachen all das lenkte für einen Moment vom Gegenwind ab. Der Radweg war gut ausgezeichnet, der Belag  wie aufgemalt, sehr komfortabel zu fahren wenn da nur nicht dieser Wind wäre…
In vielen alten Städten wie Nienburg und davon gibt es tatsächlich ganze fünf in Deutschland begegnet uns immer wieder das gute alte Kopfsteinpflaster.

Warum eigentlich dieses Gerumpel?“ fragte Michael.

„Historisch gewachsen“, antwortete ich. „Kopfsteinpflaster war haltbar, bot in früheren Zeiten gute Drainage und es zwingt auch heute noch Autofahrer zur Langsamkeit.“ Allerdings ist es für Radfahrer eine Tortur besonders mit Gepäck.
Ein besonders harter Brocken wartete kurz vor dem Schloss Hohenerxleben. Eigentlich nur drei Kilometer aber sie hatten es in sich. Dazu kamen gesperrte Brücken, die unsere Geduld strapazierten. So manches Mal standen wir ratlos vor Bauzäunen improvisieren war angesagt.

Die Radstrecke war gesperrt. Sechs Bauzäune versperrten uns Gefühlt alle 250 Meter den Weg auf der gerade fertigen Radstrecke. Wir kletterten, schoben, trugen einen durch dichtes Gestrüpp, schlammige Pfade, vorbei an verwinkelten Gittern und Absperrungen. Die schweren Packtaschen machten alles noch schwieriger. Nur gemeinsam schafften wir es, die Räder hindurch zu bugsieren.

„WAS IST DAS DENN FÜR EIN DRECKSWEG?!“, brüllte Michael und trat wütend gegen einen dicken Ast, der ihm den Weg versperrte. Wir schwitzten, fluchten, aber gaben nicht auf. Die letzten Meter waren ein Kampf.

Als wir das Schloss endlich erreichten, konnten wir es kaum glauben: Eine friedliche Idylle empfing uns mit einer kostenfreien E-Bike-Ladestation direkt am Eingang. Das barocke Schloss hat eine wechselhafte Geschichte, war einst Adelssitz, später Volkseigentum in der DDR und ist heute ein Ort für Kunst, Begegnung und Kultur.
Zum Abschluss gönnten wir uns ein Eis im „Eiscafé Judy“. Hausgemacht, nach Original-DDR-Rezept, für nur 50 Cent die Kugel. Ich schloss die Augen der Geschmack katapultierte mich zurück in meine Kindheit, zu meiner Großmutter in Kirchenlaibach, als ich mit klebrigen Fingern vor dem alten Bäcker stand.

Unsere Unterkunftssuche gestaltete sich abenteuerlich. Ersten Versuch „Bei Aldo“ war alles ausgebucht. Das nächste Hotel verlangte 140 € für ein Doppelzimmer.
„Die haben wohl Goldlöffel beim Frühstück!“, murmelte Michael.
Am Ende landeten wir in der Pension „Ab zum Lokschuppen“. Einzelzimmer für 50 €, Frühstück für 8 € fair und solide.

Über 90 Kilometer standen am Ende auf dem Tacho. Der Gegenwind hatte uns ausgelaugt, die Oberschenkel brannten, meine Kopfschmerzen pochten

„Morgen“, seufzte ich, „wird die Zimmersuche in Blankenburg wohl wieder spannend.“

„Kein Problem“, meinte Michael trocken. „Hauptsache: kein Gegenwind.

Staßfurt nach Blankenburg 

Die Route der Deutschen Einheit verbindet auf rund 1.100 Kilometern die beiden ehemaligen Regierungssitze Berlin und Bonn. Sie führt durch sieben Bundesländer, folgt einem abwechslungsreichen Verlauf und ist gespickt mit historischen, kulturellen und landschaftlichen Höhepunkten. Die Route ist ein Symbol der Wiedervereinigung und wurde 2015 zum 25-jährigen Jubiläum der Deutschen Einheit eröffnet.

Von Berlin aus verläuft sie über Potsdam, Dessau, Goslar, Bad Hersfeld, Gießen, Koblenz bis nach Bonn. Sie verbindet alte innerdeutsche Grenzen, überwindet Hügel und Flüsse und lässt Vergangenheit und Gegenwart miteinander sprechen.

Wir, Michael und ich (Robert), sind vor vier Tagen in BerlinSpandau gestartet. Das berühmte Brandenburger Tor, das wir schon vor Jahren mit dem Rad besucht hatten, war diesmal nicht unser Ausgangspunkt doch an der Glienicker Brücke, wo sich einst Ost und West die Hand reichten, begann für uns eine neue Etappe.

Die Sonne begleitete uns, aber es war nicht nur das Licht, das unsere Fahrt besonders machte es waren die Geschichten, die wir entdeckten, die Menschen, denen wir begegneten, und die Spuren einer geteilten Nation, die wir mit jedem Tritt ins Pedal näher spürten.

In Staßfurt, einem kleinen Ort voller Geschichte, kehrten wir ein in die Gaststätte „Zum Salzhof“. Was von außen urig wirkt, entfaltet innen einen Charme, der authentischer kaum sein könnte. Die Räume gleichen einem Museum, liebevoll eingerichtet mit Erinnerungsstücken aus DDR-Zeiten, Westprodukten, historischen Fotografien – eine Schatzkammer der Alltagskultur.

Der Wirt, Stefan Rähm, ist ein echtes Original. Sein Leben ist eng mit Staßfurt verbunden. Schon als Kind träumte er davon, eine eigene Gaststätte zu führen. Nach der Schule absolvierte er eine Kochlehre im Kreiskulturhaus Staßfurt. Am 1. Januar 1987 übernahm er die HOGaststätte „Zur Einheit“. Nach der deutschen Wiedervereinigung wagte er den Schritt in die Selbstständigkeit. Gemeinsam mit seiner Frau eröffnete er am 13. Juli 1991die Gaststätte „Zum Salzhof“ in einem umgebauten alten Lagerhaus, in dem er als Kind selbst gespielt hatte.Was ihn auszeichnet, ist nicht nur seine Erfahrung und Handwerkskunst, sondern seine warmherzige, humorvolle und zugewandte Art.

Stefan Rähm ist ein Bewahrer von Geschichte, ein leidenschaftlicher Gestalter, ein Sammler mit Seele, Menschenfreund und Kenner einer, der Räume schafft, in denen sich Fremde wie Freunde fühlen dürfen. Gäste loben ihn für seinen persönlichen Service und den urigen Charme, mit dem er seinen Gastraum gestaltet hat ein Ort, der Erinnerungen weckt, der Menschen berührt, der bewahrt und verbindet. Hier wird Geschichte nicht erzählt sie wird gefühlt, durchlebt, sie berührt.


Und plötzlich, inmitten all dieser Erinnerungsstücke und Geschichten, wird uns bewusst, wie wenig wir selbst über die deutsche Teilung gelernt haben. In all den Schuljahren kein Raum für das, was Familien zerriss, Leben verformte, Träume zerbrach.

Warum nur? Warum wurde geschwiegen – damals wie heute so oft?

Wir sitzen da, umgeben von Relikten eines Landes, das es nicht mehr gibt und doch lebt es fort, in Erinnerungen, in Wunden, in Sehnsucht. Wir spüren sie: die Stille der Verlorenen, die Einsamkeit der Getrennten, das unfassbare Leid, das eine unsichtbare Linie in unzählige Herzen ritzte.

Es war nicht nur eine Mauer aus Beton. Es war eine Mauer aus Angst, Misstrauen und Schmerz.

Und in diesem Moment, in dieser einfachen, warmherzigen Gaststätte, in einem Ort, den kaum jemand kennt, flackert in uns etwas auf Demut, ja, aber auch eine leise, tiefe Traurigkeit. Dass wir so spät, so mühsam, Stück für Stück begreifen, was dieses Kapitel deutscher Geschichte bedeutet für ein ganzes Volk, für Millionen Einzelschicksale.

Und wie leicht es vergessen werden kann, wenn wir nicht hinschauen.In

Es darf nie wieder geschehen.

Nie wieder dürfen Mauern zwischen Menschen wachsen nicht aus Beton, nicht aus Worten, nicht aus Gleichgültigkeit. Nie wieder dürfen Kinder in einem Land aufwachsen, das ihnen verschweigt, woher es kommt.

Doch in allem Schmerz liegt Hoffnung.

Hoffnung, dass wir erinnern, erzählen, teilen.

Hoffnung, dass solche Orte wie dieser bewahrt bleiben. Hoffnung, dass wir einander zuhören mit offenem Herzen, auch über Grenzen hinweg.

Denn das Einzige, das wirklich verbindet, ist nicht Politik, nicht Geschichte, nicht Herkunft.

Es ist Menschlichkeit.

Der Biergarten, voller kleiner Details und mit einem eigenen Geist, ließ uns den Alltag vergessen. Die Gerichte hausgemacht, mit Leidenschaft und Handarbeit zubereitet ließen keinen Wunsch offen. Es war nicht nur Nahrung für den Körper, sondern auch für die Seele. Wir sagen von Herzen Danke für diese Begegnung, für das Vertrauen, die Geschichten, und den warmherzigen Empfang.

Nach einem langen Fahrtag legten wir uns ins trockene, geschnittene Gras, atmeten tief durch. Über uns nur der blaue Himmel, um uns das Summen der Hummeln, das Zwitschern der Vögel, ein Kuckuck in der Ferne. Der Moment gehörte uns still, rein, kostbar.

Wir besuchten das Schloss Bernburg, das wie eine Festung über der Bode thront. Einst Residenz der Fürsten von Anhalt-Bernburg, birgt es heute ein Museum, das uns durch Jahrhunderte deutscher Geschichte führte.

Der Weg dorthin war alles andere als leicht: Steile Anstiege, die uns bei praller Sonne mit unseren vollgepackten Rädern alles abverlangten. Wir mussten schieben, ringen, schwitzen. Der Fluss Bode, an dem wir entlangradelten, begleitet uns seit dem Harz. Sie entspringt im Harz, bei Benneckenstein, und mündet bei Nienburg in die Saale. Ihr Tal ist reich an Naturwundern und Mythen.

Ein zauberhaftes Bild boten uns geschmückte Pferdegespanne, die fröhliche Touristen durchs Land fuhren. In den Hecken blühten Holunderstauden die Blüten wurden gepflückt, um verarbeitet zu werden.

Ein paar Beispiele für traditionelle Holunderrezepte:Holunderblütensirup: Aus Wasser, Zucker, Zitronen und Blüten, perfekt für Limonade.

Holunderblüten in Bierteig: In Pfannkuchenteig getaucht und ausgebacken – ein Klassiker der Landküche.

Holundergelee: Fürs Frühstück oder zu Käse, fruchtig und intensiv.

Der Weg wurde hügeliger, aber auch faszinierender. Weitblicke auf sanfte Landschaften, bevor uns wieder kleine Steine im Weg zur Geduld mahnten. Die Abfahrten belohnten uns mit Fahrtwind und Freude, ein Rausch der Freiheit.

In Thale empfing uns die Welt der Mythen. Der Hexentanzplatz, hoch über dem Bodetal, erzählt vom Aberglauben, den Walpurgisnächten, von heidnischen Ritualen und schaurigen Legenden.

Später führten uns schattige Waldwege durch kühle Passagen, dankbar waren wir für jeden Meter Schatten.

Unser Quartier war die Herberge „Zum weißen Mönch“, schlicht, aber mit Charakter. Das Abendessen im angrenzenden Gasthaus „Zum Klosterfischer“ war ein Hochgenuss: Frische Forelle im Silbermantel, direkt aus dem Gartenweiher unverfälscht, ehrlich, köstlich.

Am Ende des Tages spüren wir unsere alternden Glieder, unsere Kräfte schwinden. Doch wir sind erfüllt von Begegnungen, Geschichten, Geschmack und der Gewissheit, Teil von etwas Größerem zu sein. 

Blankenburg nach Goslar 

Unsere diesjährige Etappe der „Route der Deutschen Einheit“ führte uns von Berlin nach Goslar, rund 420 Kilometer auf dem Rad, fünf Tage voller bewegender Eindrücke, kleiner Wunder am Wegesrand und großer Geschichten zwischen Ost und West.

Ach ja, ich bin euch da noch was schuldig: Im Bericht vor zwei Tagen erwähnte ich, dass wir an mehreren Orten namens Nienburg vorbeikamen und wie ich vermutet hatte, grübelten viele: „Welche sind das denn?“ Also, hier kommt die Auflösung: Es gibt in Deutschland tatsächlich fünf Orte, die den Namen Nienburg tragen. Am bekanntesten ist Nienburg an der Weser, mit seiner charmanten Altstadt an der Mittelweser. Dann Nienburg an der Saale, beschaulich und voller Geschichte, mit dem alten Benediktinerkloster. Kaum jemand kennt noch das historische Nienburg bei Altencelle, das heute nur archäologisch greifbar ist, oder das Kloster Nienburg in Sachsen-Anhalt. Selbst eine ehemalige Burg Nienburg in Westfalen gibt es stille Orte, die wie kleine Fußnoten durch unsere Tour begleiten. Vielleicht seid ihr ja selbst schon durch eines dieser Nienburgs geradelt oder habt nun Lust, sie auf eure eigene Karte zu setzen.

Eine ganz besondere Station war unsere Übernachtung in der Klosteranlage Michaelstein bei Blankenburg. Eine ruhige Nacht in ehrwürdigen Zisterziensermauern still, geschützt, ein bisschen wie aus der Zeit gefallen.

Weiter ging’s durch den Harz, vorbei an typischen Harzer Häusern mit ihren schiefergedeckten Dächern, geschnitzten Fachwerkfassaden und kunstvollen Türen. Gebaut von stolzen Handwerkern und wohlhabenden Bürgern, waren sie mehr als nur Wohnraum, sie erzählten von Fleiß, Gemeinsinn und Tradition.

Nach nur 90 Minuten erreichten wir Ilsenburg. Der Forellenteich glitzerte in der Sonne, und gegenüber im Bäckerei-Stübchen lachte die freundliche Bedienung, als wir in dampfender Regenkleidung unseren Kaffee bestellten. Wenig später kam die Sonne durch und wir nutzten die Gelegenheit, um uns zu trocknen, aufzuwärmen und einfach mal zu verschnaufen. Der Weg durch den Laubwald war erfüllt vom Duft des Bärlauchs, und die Sonne zauberte rote Muster durch die Blätter auf den Weg wie gemalte Ornamente auf einem Teppich aus Erde und Moos.

An einem alten Grenzstein hielten wir plötzlich inne. Dort, wo einst der Osten endete und der Westen begann. Unspektakulär, fast übersehbar und doch voller Bedeutung. Heute radeln wir ohne Zwang darüber hinweg, doch damals war diese Linie eine Grenze aus Stacheldraht, Kontrolle und Schweigen. Familien wurden getrennt, Reisen unmöglich, Informationen gefiltert. Und trotzdem: In all dieser Enge wuchs auch der Mut. Die friedliche Revolution von 1989 war kein Zufall, sondern das Ergebnis eines langen inneren Aufbegehrens.

Mit diesen Gedanken im Herzen erreichten wir Goslar. Die Einfahrt durch das breite Stadttor war wie ein symbolischer Abschluss. Direkt hinein auf den Marktplatz das Pflaster vertraut, die Kulisse fast wie ein Bühnenbild aus unserer eigenen Geschichte.

Und da stand es vor uns: Das / unser Hotel Kaiserworth

Ein Gebäude, das für uns weit mehr bedeutet als nur historische Substanz. Dort haben wir uns in jungen Jahren kennengelernt in der Küche, im Service, zwischen Töpfen, Tellern, Feierabendbier und kleinen Gesten, die oft mehr sagten als Worte. Es war nicht nur ein Arbeitsplatz. Es war ein Ort des Anfangs, der Freundschaft, ja sogar der Liebe. Wir lernten dort, was es heißt, gemeinsam anzupacken, zu lachen, zu streiten, durchzuhalten und am Ende mit einem zufriedenen Blick auf den vollen Saal und den leeren Pass zu schauen.

Heute ist das Hotel geschlossen. Die Fenster dunkel, die Türen zu. Es liegt etwas Wehmut in der Luft, als wir davorstehen. Und doch macht uns die Nachricht, dass die Tessner Stiftung, ein engagiertes Unternehmen aus Goslar, das Haus übernommen hat und nun saniert, richtig froh. Ein Stück Geschichte wird erhalten und wer weiß, vielleicht wird es irgendwann wieder ein Ort für Begegnungen, wie er es einmal für uns war.

So endet unsere diesjährige Etappe. Reich an Erinnerungen, Eindrücken und nachdenklichen Momenten.

2026 geht es weiter von Goslar bis Bonn! Und wir freuen uns jetzt schon auf das, was uns erwartet: neue Wege, alte Freunde, hoffentlich weniger Gegenwind (liebe Grüße an unsere Freundin Windy!) und wieder viele Geschichten, die uns zeigen, wie wertvoll dieser Weg durch das vereinte Deutschland ist.

Geschichte, Begegnung, Bewegung das bleibt. Und wir rollen im Jahr 2026 weiter.

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