
Ich sehe auf einem Bild, Heidi hat es in die WhatsApp Gruppe geschickt, die zerschmetterten Überresten meiner alten Hauptschule in Eschenbach. Ein Bagger rückt im zarten Licht des frühen Morgens heran und zerpflügt Mauern, die einst unsere Welt beherbergten. Der staubige Geruch von zerfallendem Putz mischt sich mit dem metallischen Echo des Baggers, ein Klang, der mir das Herz zusammenschnürt. Aus der Perspektive eines ehemaligen Schülers, der 1979 die Schule verlassen hat, möchte ich gleichermaßen analytisch wie emotional schildern, was sich in diesen Momenten verdichtet: Vergänglichkeit, Erinnerung, Heimatverlust und Neuanfang.
Die Schulbauten der Nachkriegszeit erfüllen heute vielfach nicht mehr die Anforderungen an Energieeffizienz, Raumklima oder Gesundheitsschutz. Das alte, marode Gebäude war eine endlose Wärmebrücke, in deren Mauern Risse wie Narben klafften. Energie ging verloren, Heizkosten explodierten, die Fenster waren undicht, ein ökologischer wie ökonomischer Sündenfall, da sich auch Asbest fand, der Sanierungskosten in unerträgliche Höhen getrieben hätte. Neubauten im bayerischen Rahmen, mit durchschnittlichen Kosten von 6 700 bis 8 000 Euro je Quadratmeter, erscheinen langfristig effizienter. Und Förderinstrumente wie BayernLabo oder KfW erleichtern, wenn auch nur anteilig, die Finanzierung.
Die Bauarbeiten erfordern eine Übergangslösung: Containerklassen auf dem Schulhof oder in der Nähe. Ein behelfsmäßiges Schulcampus aus Metallboxen, farblich monoton in Grün- oder Blautönung gehalten, die im Sommer glühen, im Winter auskühlen. Im Innern dröhnen Stimmen, Betonklackern von Baumaschinen mischt sich mit Pager-Piepen und Kindergedränge. Die Luft schmeckt nach Staub und Ersatz.
Lehrkräfte stehen vor logistischen Herausforderungen: Raumpläne werden täglich umgeschrieben, Technik muss oft improvisiert werden, Tafelkreide muss in Containern ständig ersetzt werden, und Schüler, die in modrig riechenden Fluren unterwegs sind, wirken orientierungslos. Eltern organisieren neue Routen, spontan bilden sich Fahrgemeinschaften, die Schüler strömen mit dicker Jacke und Turnbeutel zu diesem fremden Lernort. Dennoch existiert in all dieser fremden Atmosphäre die leise Hoffnung auf Zukunft.
Wenn ich an jene Zeit zurückdenke, füllt sich mein Inneres mit lebendigen Farben: das satten Rot der Samtkreiden, das blasse Gelb der Tafelkreiden, das bläuliche Licht, das durch die Fenster fiel. Ich erinnere mich an meinen Mitschüler Karl, einen Rüpel, der in einer Pause das Pausendurstbrot irgendwo im Laub vergrub, während ich ihm zusehen musste. Ich erinnere mich an das Kichern, als wir den Frosch auf den Lehrertisch setzten ein Moment kindlicher Triumphs, vom Ruf des Laubs im Hof begleitet.
Die Hauswirtschaft war ein ganz anderer Raum: der Duft von frischer Butter, gemixt mit einer Prise Mehl, der zarte Rhythmus des Rührens, wenn wir Teig für Plätzchen anrührten; Hände voller Mehl, die an Töpfen klebten oder beim Knüpfen von Pulswärmern im Handarbeitsunterricht. Ich erinnere mich an die weiche Wolle zwischen meinen Fingern, die sich in kleinen Maschen verlor, während draußen Raben krächzten oder eine Katze am Fenster vorbeischlich.
Dann waren da die Bundesjugendspiele: ein brüllendes Gelächter, als meine Kumpels mich beim Weitsprung unterstützten. Der Augusthimmel war strahlend blau, das Gras wieselflink im Wind, die Farben von Trikots, Startblöcke, Startpistolen – alles pulsierte in lebendiger Eindringlichkeit. Ich fühlte den Wind im Gesicht, das Adrenalin im Körper, die zaghaften Hoffnungen, ob ich den ersten Platz erreichen könnte.
Und meine erste Liebe: zögerlich, im Schatten der Lindenbäume vor der Turnhalle, geflüstert und flüchtig wie ein Schmetterling. Ich spürte die Hitze im Nacken, sah ihre Haare im Sonnenlicht leuchten, roch den Duft des Lindenblütenhonigs, ein Gefühl von Hoffnung, Beschwörungszauber gegen den ihn tragenden Alltag.
Gleichzeitig war da der Schatten des Mobbings: Jonas, ein kräftiger Junge, stahl mir mein Pausenbrot, zerfetzte meine Brille und grölte laut. Sein Spott hallte in mir lange nach. Doch Lehrer wie Herr Braun waren unser Gegenpol: Ruhe, Verständnis, Zeit. Er rief mich ins Kellerbüro, wo das Licht spärlich war, die Tapeten abblätterten – und ich weinte, endlich gehört und gelehrt mit dem Kopf zu nicken, statt mir selbst zu schaden.
Lehrkräfte im Provisorium tragen eine doppelte Last: Sie müssen Fachwissen übermitteln und gleichzeitig Seelen stabilisieren. Sie öffnen Räume in Containern, improvisieren Bildungsorte, erleben die Fremdheit derselben. Gleichzeitig bleiben sie im Zentrum – Lehrer sind Anker, Brücken zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Heimat ist nicht das Gebäude, sie ist ein multilaterales Gefüge aus Bildern, Düften, Stimmung, Gemeinschaft. Heimat ist das Lied, das der Schulgong im Hof anschlug, das Kichern, wenn ein Mitschüler heimlich einen Streich spielte, der Geruch von Butter und Mehl in Hauswirtschaft, das sanfte Kratzen der Kreide, der Rhythmus unserer Schritte im Takt der Pausenglocke.
Heimat ist der rote Teppich aus Herbstlaub im Schulhof, an dem wir im Schwung liefen, die Krähen, die sich kringelnd in den Bäumen niederließen, Katzen, die durch Pausenzeiten schlichen und von uns gekrault wurden. Heimat ist die fremde Angst vor dem Urteil des Lehrers, das sich in wärmende Akzeptanz wandeln konnte. Heimat ist der Moment eines Teils des Glücks wo Streiche wehten, Freundschaft kaum gesprochen und Liebe leise atmete.
Wenn das Gebäude fällt, stehle ich mir diese Heimat zurück. Sie liegt in meinem Gedächtnis, sie bewegt sich mit mir, sie ist unsichtbar, unzerstörbar, gekrönt von Erinnerungen, die in den Farben der Kindheit leuchten und in den Geräuschen der Zeit widerhallen. Die Heimat ist das, was niemand abreißen kann.