Die Nacht beginnt mit einem Knirschen, nicht unter dem Reifen, sondern in meinem Inneren. Es ist das Geräusch enttäuschter Gutgläubigkeit. Meine Powerbank wurde gestohlen, im Sanitärgebäude, beim Laden. Der Strom war gratis, die Moral offenbar auch. Die nahe Autobahn sorgte derweil für die musikalische Untermalung der unruhigen Nacht. Wer braucht schon Zikaden, wenn es eine Renault-Twingo-Fanfare gibt. Und doch beginnt der nächste Tag mit einem kleinen Triumph. Morgendliches Stromcatching an einem der wenigen CE-kompatiblen Steckplätze. Unser blauer Adapter, ein Held in Steckerform, rettet das Kaffeewasser. Die Rezeption war beim Thema Stromversorgung so ahnungslos wie ein Kamel im Schneesturm. Doch mit einem Lächeln und einer dampfenden Tasse schauen wir Richtung Osten, dem Kanal folgend. Wir verlassen Colmar, schnurgerade geht es dahin. 37 Kilometer Richtung Straßburg. Die Landschaft wirkt wie ein einziger, gedehnter Atemzug. Der Kanal zieht sich lang wie ein Gedanke ohne Punkt. Immer wieder rollen Reifen über die Wege, schleudern Brombeeren, Himbeeren, Kirschen und was der Sommer sonst noch so fallen lässt gegen unsere Waden. Ein süßer Duft nach nassem Holz, warmem Asphalt und frühen Walnüssen hängt in der Luft. Die Insekten feiern Party, und wir sind die Tanzfläche. Unter einem alten Nussbaum machen wir Halt. Seine Krone wiegt sich im Wind, großzügig wie ein Großvater mit vollen Taschen.
Weißt du, Martina, frage ich, wie viele Kilo Nüsse ein einziger Baum trägt? Kommt drauf an, sagt sie, wenn du drunterstehst, mindestens ein blaues Auge pro Kilo. Ein kurzes Kichern, dann wieder Stille. Der Weg zieht sich weiter. Sonnenblumenfelder links, die Köpfe wie kleine Sonnenwächter, die sich dem Licht entgegenstrecken. Sie duften nach Staub und Hoffnung. Etwa fünfzehn Kilometer vor Straßburg verändert sich das Bild. Ein verzweigtes Kanalsystem breitet sich aus. Die ersten Hausboote erscheinen, keine bloßen Fahrzeuge, sondern liebevoll umgebaute Lebensräume. Ehemalige Frachter, nun mit bunten Fensterläden, Topfpflanzen auf dem Bug, kleinen Terrassen, selbstgemalten Schildern. Die Farbe blättert nicht, sie erzählt Geschichten. Hier wohnen Menschen, jung und alt, frei und sesshaft zugleich. Warum? Vielleicht weil Wasser milder urteilt als Beton. Vielleicht, weil ein Zuhause nicht vier Wände braucht, sondern nur die Möglichkeit zum Rückzug.


Die Alleen entlang des Kanals begleiten uns wie alte Bekannte, kilometerweit spenden sie Schatten, filtern das Licht in ein goldenes Flimmern.
Wissen Sie, sagt ein älterer Mann mit Baskenmütze, den wir bei einer Pause am Bootssteg treffen, dieser Kanal, er wurde 1826 eröffnet. Damals hatten die Schiffe keine Motoren. Man zog sie mit Pferden entlang der Ufer. Wie lange dauert es, so einen Kanal zu bauen, fragt Martina. Damals? Fünfzig Jahre. Heute? Mit den Bürokraten in Brüssel wahrscheinlich dreißig Jahre. Er lacht, seine Hände gestikulieren, als würde er damit die Vergangenheit nachzeichnen, und dann erzählt er uns in einem guten Deutsch vom Treideln, dieser fast vergessenen Kunst des Ziehens. Es war ein Knochenjob. Die Pferde liefen auf sogenannten Treidelpfaden, direkt neben dem Wasser. Manchmal war der Grund so morastig, dass Menschen selbst zogen. Männer, Frauen, sogar Kinder, mit Seilen über der Schulter, wie gezähmte Galeerensklaven an Land. Die Boote waren schwer beladen, Kohle, Holz, Mehl, Ziegel. Und unterwegs schliefen sie in Heuhaufen, aßen kalte Suppe, träumten von der nächsten Bäckerei. Seine Stimme wird leiser, als wolle er dem Wind nichts von der Härte jener Tage verraten. Und doch, das war das Leben. Die Verbindung der Welt auf Wasser. Diese metallischen Elemente hier am Ufer, sagt er noch, das sind Spundwände. Halten das Wasser in Schach, wie gute Erziehung. Wir bedanken uns und radeln weiter, die Vorstellung, ein Hausboot mit Pferd zu ziehen, erscheint uns gleichzeitig romantisch und absurd. Was heute Freizeitvergnügen ist, war einst bitterer Broterwerb. Der Rhein-Rhône-Kanal und seine Seitenarme ziehen sich heute über mehr als dreihundert Kilometer durch das Elsass. Früher war er die Lebensader, Kohle, Getreide, Salz. Die Schiffer versorgten Industrien, aber auch Dörfer, sie brachten nicht nur Güter, sondern Nachrichten, Geschichten, Kontakte.
Ich schweife ab und merke, wie ein Gedanke schwer wird. Manchmal wiegt nicht der Gepäckträger, sondern das Innenleben. Und dann, mitten in der schönsten Idylle, spürt man eine tiefe Traurigkeit. Nicht jeder Mensch, der lächelt, ist frei. Nicht jede Reise führt aus der Dunkelheit. Für all jene, die das Gewicht der Tage spüren, Rückzug ist kein Versagen. Gelassenheit kein Luxus. Manchmal hilft ein Waldweg mehr als jedes Medikament, ein Gespräch mehr als ein Diagnoseschlüssel. Ablenkung ist keine Flucht, sie ist ein Zwischenraum, in dem der Schmerz leiser werden darf. Und manchmal genügt ein Sonnenblumenfeld, um sich für einen Moment wieder an das Licht zu erinnern.
Schon am frühen Nachmittag erreichen wir das Hostel. Und was soll ich sagen? Wer hätte gedacht, dass sich ein Ort der Einfachheit so sehr wie ein Zuhause anfühlen kann. Die Dusche, ein Wasserfall der Erlösung. Der Mittagsschlaf, eine Reise ohne Gepäck. Die Betten quietschen nicht, die Fenster lassen Licht hinein statt Lärm, und das Lächeln an der Rezeption wirkt nicht einstudiert, sondern echt. Selbst die Kaffeemaschine in der Lobby hat etwas Verschwörerisches, sie zwinkert uns zu, als wolle sie sagen, ihr habt’s fast geschafft. Im Aufenthaltsraum, Bücher in fünf Sprachen, Teebeutel aus aller Welt, Menschen mit offenen Augen. Kein Luxus, aber alles, was man braucht. Wir fühlen uns willkommen. Und das ist oft mehr wert als jedes Pralinenkissen in einem Drei-Sterne-Zimmer mit Minibar.
Danach geht es in die Altstadt. Und hier beginnt das Staunen, und das Stirnrunzeln. Straßburg ist schön, ohne Zweifel. Fachwerk, Kopfsteinpflaster, Blumenbalkone. Aber auch hier wurde in Beton gegossen, was besser aus Lehm geblieben wäre. Das Münster, ehrfurchtgebietend selbst unter Gerüsten, wurde 1439 nach über vierhundert Jahren Bauzeit fertiggestellt und war zu seiner Zeit das höchste Gebäude der Welt. Seine steinerne Spitze ragt wie ein mahnender Finger in den Himmel, ein stilles Zeugnis mittelalterlicher Entschlossenheit. Aber dazwischen, Bausünden in Sichtweite, lieblos aufgestockte Häuser, Glasfassaden mit Seelen im Energiesparmodus. Die Gassen der zweiten Reihe sind eng, charmant, und touristisch überfordert. Die Auswahl an Restaurants? Riesig. Michelin bis Mamas Gemüsegarten, alles ist dabei.




Wir entscheiden uns für das „Hache“, eine Empfehlung aus dem Bauch heraus und eine Entscheidung aus dem Herzen. Auf den Tellern, Lammschulter, langsam geschmort, mit einer Jus, die vermutlich direkt vom Himmel getropft ist, und das Nierenstück vom Rind, perfekt rosa, begleitet von samtigem Selleriepüree. Und natürlich dürfen sie nicht fehlen. Vorab Schnecken mit viel Knoblauch und Petersilie, und Froschschenkel, außen knusprig, innen zart, fast wie Hühnchen mit französischem Diplom. Das eine ist das Essen, zitiere ich einen Blogbeitrag von freidurchatmen.de, das andere ist die Gastfreundschaft. Und tatsächlich, ein Lächeln mehr, eine Gabel weniger hektisch. Hier wird Zeit noch als Zutat verstanden.
Am Abend, Völlerei trifft Verzückung. Flammkuchen, Munsterkäse, Crémant. Und während ich genüsslich kaue, fällt mein Blick auf die Straßenschilder, Sephora, McDonald’s, Five Guys, Benetton, Levi’s. Es ist wie ein Déjà-vu aus Frankfurt, Lyon oder Kassel. Ein bisschen Alltag unter Puderzucker. Ich brauch kurz ne Auszeit, sage ich und setze mich auf die Bank. Ich auch, sagt Martina. Aber ich muss erst noch schauen, ob es hier Wildbeeren gibt. Frühmenschliche Instinkte.
Straßburg nennt sich selbst Europastadt. Und mit gutem Grund, Sprachen mischen sich wie Aromen in einem Eintopf. Französisch, Deutsch, Englisch, Elsässisch, dazu ein Schuss Arabisch, Polnisch, Italienisch. Alles erlaubt, alles akzeptiert. Die Fußgängerzone? Auch für Fahrräder offen. Lastenräder mit Kindern flitzen vorbei. Helme? Eher Accessoire als Standard. Ein vereintes Europa, das spüre ich hier. Es ist wichtig, mehr denn je. Doch warum beschäftigen sich manche EU-Politiker mit Flaschenverschlüssen oder Verboten biologisch abbaubarer Mülltüten, während weltweit Demokratien bröckeln? Vielleicht ist es einfacher, Kleines zu regeln, als Großes zu retten. Vielleicht auch nur Angst vorm Wesentlichen. Was das Wesentliche ist? Das entscheidet jeder selbst.
Wir verlassen Straßburg mit einem leisen Lächeln und einem letzten Blick zurück. Das Elsass hat uns nicht nur durchgeschüttelt, sondern auch bereichert. Zwischen Lärm, Ladendiebstahl, Sonnenblumen, Stromkabeln und französischer Gemütlichkeit bleibt die Erkenntnis, das Leben ist wie ein Nussbaum, manchmal fällt dir was auf den Kopf, manchmal in die Hand.
À bientôt, du charmante Region. Und bitte, lasst die Flaschenverschlüsse in Ruhe!
