Es ist früher Vormittag und doch zeigt das Thermometer bereits 20 Grad Celsius. Der Himmel über uns: wolkenloses Blau, das sich im Rhein spiegelt, als hätte sich der Himmel selbst hingelegt, um ein kühles Bad zu nehmen. Der Wind, wie so oft auf unseren Touren, hat sich gegen uns verbündet er weht leicht aus Westen, was auf einem südlich verlaufenden Radweg am Rhein bedeutet: Gegenwind deluxe. Martina, die die Strecke mit unerschütterlichem Humor meistert, ruft plötzlich:
„Du Robert, siehst du das da drüben? Dieser riesige Turm auf der anderen Seite – ist das Kunst oder darf das weg?“
Ich folge ihrem Blick. Jenseits des Rheins ragt der Kühlturm des Kernkraftwerks Leibstadt in den Himmel, als wolle er sich dort oben mit den Wolken messen.

„Das ist das AKW Leibstadt. Stilistisch irgendwo zwischen brutalistischem Betonminimalismus und galaktischem Wasserkocher.“
Martina grinst. „Und was wäre dir lieber: dieser Turm hier in der Landschaft oder 5000 Windräder, die überall stehen?“ Ich überlege kurz und antworte dann trocken: „Das ist wie die Wahl zwischen einem schnarchenden Drachen und einem aufgeblähten Elefanten, der einen ganzen Wald mit einem einzigen Furz verwüstet. Beim Kraftwerk steht halt ein riesiger grauer Klotz in der Gegend aber 5000 Windräder? Das ist ein visuelles Dauerfeuer.“ Der Vergleich ist nicht ganz aus der Luft gegriffen. Ein modernes Atomkraftwerk wie das in Leibstadt produziert jährlich etwa 9 Terawattstunden Strom. Um dieselbe Energiemenge mit Windkraft zu erzeugen, wären tatsächlich etwa 5000 Windräder der 5-Megawatt-Klasse nötig, eine eindrückliche Zahl, die die Herausforderungen der Energiewende sichtbar macht. Die landschaftsästhetische Frage bleibt subjektiv, doch Martina fasst es wie immer pointiert zusammen: “Der aufgeblähte Elefant der Energiewende hat jetzt offiziell ein Gesicht.“
Während der Rhein neben uns weiter in gemächlichem Tempo gen Norden zieht, diskutieren wir, ob der Fluss eigentlich jemals zufrieren könnte. Die Antwort führt uns ins Jahr 1963, als der Rhein zuletzt so stark vereiste, dass man in Köln zu Fuß das andere Ufer erreichte. Heute ist das aufgrund der wärmeren Winter unwahrscheinlich, doch im Ernstfall stünden Eisbrecher bereit, große Schiffe mit verstärktem Rumpf, die sich durch die gefrorene Oberfläche fräsen wie Schokostücke durch Vanilleeis.
Ein wenig später wird klar, warum der Rhein hier oben keine Frachtschiffe trägt: Oberhalb von Iffezheim ist der Fluss durch Wehre und natürliche Gefälle nicht durchgängig schiffbar. Erst ab der Schleuse Iffezheim beginnt die gewerbliche Schifffahrt, die täglich 300 bis 400 Güterschiffe zählt. Diese transportieren alles von Baumaterial bis Chemikalien und sichern entlang der Strecke eine beeindruckende Zahl an Arbeitsplätzen. Schätzungen zufolge mehr als 300.000, direkt oder in angrenzenden Industrien. Eine pulsierende Ader der Wirtschaft, die sich nur wenige Meter neben unserem Radweg durch das Land windet. Doch heute dominiert nicht der Handel, sondern die Botanik. Links und rechts des Weges ragen Brombeer- und Himbeersträucher in unseren Weg, als wollten sie uns zur Rast zwingen. Die Früchte sind reif, süß und zahlreich ein Paradies für Naschkatzen mit festem Schuhwerk. “Weißt du eigentlich, wie viele Brombeeren man auf 20 Kilometern Radweg ernten könnte?“, fragt Martina, während sie sich eine der dunklen Beeren schmecken lässt. Ich nicke. „Bei gutem Strauchwuchs und geübter Hand? Rund 100 bis 200 Kilogramm. Die Natur ist verschwenderisch, wenn man sie lässt.“ Historisch betrachtet wurden Brombeeren in ländlichen Gegenden tatsächlich regelmäßig gesammelt, nicht selten als kostenlose Ergänzung zur Ernährung. In den frühen 1900er Jahren war das ein saisonaler Alltag, in den 1960er Jahren ein Fest für Marmeladenliebhaber. Heute eher ein Geheimtipp für Slow Food Anhänger und Wildpflanzenfreunde.
Der Radweg schlängelt sich bald durch das Biosphärengebiet Schwarzwald, das mit seinen drei Zonen; Kernzone, Pflegezone und Entwicklungszone ein Modell für nachhaltige Landnutzung darstellt. In der Kernzone bleibt die Natur vollkommen sich selbst überlassen, in der Pflegezone greifen Menschen mit traditionellen Methoden wie Streuobstwiesenpflege oder sanfter Forstwirtschaft ein. Die Entwicklungszone erlaubt eine moderne, aber nachhaltige Nutzung. Vom sanften Tourismus bis zur Direktvermarktung lokaler Produkte.
Kurz darauf erreichen wir Bad Säckingen. Auf dem malerischen Dorfplatz vor der Kirche sitzen wir beim Italiener, wo die wenigen Schattenplätze heiß begehrt sind. Der Brunnen plätschert, als wolle er uns ein Schlaflied vorsummen, während wir Pizza genießen und unsere Beine zur Ruhe kommen. Martina lehnt sich zurück. “Ich könnte hier bleiben.“ „Du meinst: für immer oder nur bis die Sonne nachlässt?“ „Beides wäre okay.“

Der Rhein wird hier touristisch erschlossen. Kiesstrände, kleine Terrassen, sogar aufgeschüttete Sandbuchten machen aus dem Strom eine mediterrane Oase mitten in Mitteleuropa.Am Nachmittag legt Martina eine Pause ein. Im flachen Wasser der Wehra, einem Zufluss des Rheins, nimmt sie ein erfrischendes Fußbad im Schatten. Ihre Augen schließen sich, der Atem wird tiefer, die Stirn entspannt.
„Das ist wie ein Mini-Spa für müde Beine“, sagt sie. „Das kalte Wasser zieht die Hitze aus den Füßen und aus dem Kopf gleich mit.“

Medizinisch gesehen sorgt so ein Bad für bessere Durchblutung und kühlt die Körperkerntemperatur. Seelisch ist es eine kleine Wiedergeburt.
Und während wir den Fluss betrachten, fragen wir uns, wie lange es eigentlich dauert, bis aus einer unsichtbaren Fischlarve ein verzehrfähiger Fisch wird. Die Antwort schwankt je nach Art: von wenigen Monaten bei Kleinfischen bis zu mehreren Jahren bei Lachsen oder Welsen. Damit diese überhaupt ihre Wanderrouten fortsetzen können, gibt es am Rhein mittlerweile Fischtreppen künstliche Rinnen oder Becken, die den Tieren das Überwinden von Wehranlagen ermöglichen. Viele Stationen erfassen per Kamera, welche Fischarten unterwegs sind gewissermaßen die Volkszählung der Flossenträger. Am Abend finden wir unseren Lagerplatz: Nur einen Meter vom Ufer entfernt, unter dem freien Himmel, den wir liebevoll unsere 100.000 Sterne Herberge nennen. Heute bekommen wir besonderen Besuch: Klapperstörche. Zwei davon stolzieren in unserer Nähe herum. Ihre klappernden Schnäbel dienen der Reviermarkierung, der Begrüßung und vielleicht auch einem Anflug von Stolz über ihre eigene Eleganz.
Martina blickt ihnen nach und sagt leise:
„Heute hat uns die Natur ein Rundumprogramm serviert. Vom Elefanten der Energiewende bis zum Fisch im Fluss. Und alles ohne Eintrittskarte.“
Ich lächle. „Nur mit Muskelkraft bezahlt. Und ein bisschen Sonnencreme.“
